Werte Aktionäre,
Avril est venu, Lila kräuselt sich im Betongrün meines Wohnheim-Campus. Während ich durch ein etwas weniger zerfrorenes Wien wanke und dem Sonnenblitzen mit Vampirfauchen, den Kopf in den Fledermausmantel gesteckt, entfliehen zu suche, bleibt Norddeutschland verlässlich stramm verdröbbelt. Oder? Ganz gleich, es lockt einen raus, aber mit dem Bedürfnis, noch etwas Sicherheit zum Rückzug zu haben. Und welche Lichtsamtfalle wartet da mit Wärme, Dach und Zuckerduft auf unsere klammen Knochen? Sie hat viele Namen: Savo, Scala, Filmpalast, Studio, Abaton. Sucht es euch aus. Verteilt sind die vielen Titel dieses ersten vollen Frühlingsmonats nämlich vermutlich quer durch die Bank. Aber wir sind ja auch verstreut, also perfekt vorbereitet.
Der erste Titel kommt sogar aus meiner Hood, zumindest fast: »Andrea lässt sich scheiden« spielt nicht in Wien, sondern in der breitakzentigen Provinz, aber dem Österreicher glüht das Herzle dadurch nicht minder. Der gute Josef Hader (»Wilde Maus«, »Der Knochenmann«) ist zurück und landet erneut eine knochentrockene Komödie in typischen Österreicher-Stil: Tod, Suff und Hoffnungslosigkeit, ohne das man sich davon groß aus der Ruhe bringen lassen würde. Goldene-Schnecken-Gewinnerin Birgit Minichmayr (»Nur Gott kann mich richten«, »3 Tage in Quiberon«) überfährt versehentlich des Nachts auf der Landstraße ihren werdenden Ex-Mann, schafft es aber nach Fahrerflucht nicht mit dem Vorfall in Verbindung gebracht zu werden. Stattdessen sind ihre Kollegen auf dem Revier sicher, dass es der depressive, schwer alkoholkranke Religionslehrer der Gemeinde war, der auch selbst von seiner Schuld überzeugt ist. Lakonisch verkörpert von Hader selbst. In einer köstlichen Nebenrolle Thomas Schubert (»Roter Himmel«), in den ich paar Tage vor der Premiere in Berlin fast auf dem U-Banh-Gleis reingerannt bin. Ist keine deutsche Komödie, also gelten alle Vorurteile nicht. Hatte – wie der ganze Zoopalast – sehr viel Spaß in Berlin.
»Io Capitano« hat wohl nicht in dem Sinne Spaß gemacht für die meisten, wurde aber nichtsdestotrotz auf den Festivals der Welt gefeiert und nicht nur in Venedig auch prämiert. Matteo Garrone (»Gomorrah«, »Dogman«, »Das Märchen der Märchen«) hat diesmal weder Gangster- noch Märchenfilm gemacht, sondern einen über die Flüchtlingskrise. Und reist dafür in die Wüste. Er begleitet den jungen Seydou und seinen Cousin auf ihrer Irrfahrt von Dakar nach Europa, durch die engen Staus in Libyen und die erstickende Weite des Mittelmeers. Mit viel dokumentarischem wie magischem Realismus erzählt Garrone eine homerische Odyssee in unserer unmittelbaren Gegenwart. Definitiv einer der großen, wichtigen Titel diesen Monat.
Ein paar Titel lasse ich diesen Monat raus, weil die wohl nur in meiner Ecke des Pools schwimmen, dafür keschere ich im Gegenzug zwei Titel für euch ran, die mich so gar nicht jucken:
Zum einen ist da »Monkey Man« mit Dev Patel (»The Green Knight«, »Slumdog Millionaire«, »David Copperfield«). Produziert von Jordan Peele wird hier eine Art indischer John Wick zwischen blutigen Fight Clubs und korrumpierten Hochhauseliten erzählt. Wirkt sehr stylisch, könnte Spaß machen, aber auch viel Blödelei auf zwei Stunden kloppen. Hat für mich gelinde gesagt keine Priorität. Aber wenn man mal ‘nen Abend frei hat…
Selbst wenn ich eine Woche lang nichts zu tun hätte, würde ich nicht in den neuen Guadagnino (»Suspiria«, »Bones & All«, »Call me by your name«) gehen. Aber ich schätze, ihr wollte »Challengers« gucken. Ein sexy Tennisdrama im gemischten Liebesdreieck-Doppel rund um eine arrogant über die Sonnenbrille lukende Zendaya (»Dune«, »Euphoria«, »Spiderman«). Sieht bestimmt wieder auch abseits der athletischen Sternchenkörper toll aus, aber nach drei Fiaskos muss ich mir nicht nochmal eitle Hochglanz-Kunstscheiße vom Breitbartitaliener antun. Ich kann euch aber wohl auch nicht aufhalten…
Nicht großartig wird vermutlich auch »The Fall Guy« werden, dennoch hab ich da schon mehr Bock drauf. Ryan Gosling (»La La Land«, »Barbie«, »Drive«) erlebt explosive Abenteuer als Stuntman mit Namen Colt Seavers und lässt sich auch nicht von noch so krassen Unfällen aufhalten. David Ehrlich von IndieWire kann es selbst nicht fassen, dass er mal einen David-Leitch-Film (»Bullet Train«, »Deadpool 2«, »Fast & Furious: Hobbs & Shaw«) mag, aber selbst er kann sich nicht wehren. Und als Bonus gibt es im Ensemble noch Emily Blunt (»Der Teufel trägt Prada«, »A Quiet Place«, »Oppenheimer«), Stephanie Hsu (»Everything Everywhere All at Once«, »Joy Ride«) und Aaron Taylor-Johnson (»Bullet Train«) oben drauf. Action-Abenteuer-Comedy für die laute Leinwand.
Für die ganze leise Leinwand gibt es Neues von Ryūsuke Hamaguchi (»Drive My Car«, »Das Glücksrad«): »Evil Does Not Exist« erzählt von einer kleinen japanischen Gemeinde am japanischen Winterwald, denen nun ein Unternehmen ein Touristen-Projekt vor die Haustür bauen will. Zwei Marketing-Fuzzis müssen den Clash mit dem Biosystem verargumentieren, doch ein Holzfällervater hat mit seiner Tochter ganz andere Sorgen. Mit viel Lyrik komponiert Hamaguchi hier einen eigentlich fragilen Film, der lange schweigt und über die Natur staunt, dann wieder wie gewohnt viel im Auto diskutiert, fast radikaler noch als bei seinem Tschechow-Film. Doch die Atmosphäre ist so dicht, dass man in dieser malerischen Studie von Natur und Gemeinschaft sofort einsinkt. Hamaguchi zeigt hier, was für ein brilannter Regisseur ist, nicht nur Autor, traut sich ganz unauffällig über ein sublimes Charakterdrama immer tiefer in ein Mystery-Enigma vor. Bei der Vienalle war nach dem Ende lärmendes Getuschel. Und völlig überforderte Fragen beim Q&A. Großer Sport.
Überforderung gab es auf der Viennale auch beim Q&A zu »Eureka«, wo Regisseur Lisandro Alonso völlig überdreht vom Flug aus Argentinien anfing, das Publikum für lasche Fragen und brüchiges Englisch zu kritisieren. Der Film selbst ist das Gegenteil zu seinem feurigen Regisseur, der beim Abspann im Projektorlicht tanzte: Alonso macht Hardcore-Arthouse-Slow-Cinema, aber der hier ist so kauzig, dass er ein guter Einstieg ist. Trotz seiner Länge. Es fängt als eine Art lakonische, jedoch sehr brutale Antiwestern-Parodie à la »Dead Man« an, wird dann ein schlafwandelnder »Fargo«-Verschnitt mit schweren Depressionen, um final dann zu einem halluzinatorischen Dschungeltrip zur Erleuchtung zu werden, der auch einen Apichatpong Weerasethakul staunen machen dürfte. Ich hatte einen unglaublichen Kinoabend, nicht nur wegen des großen Geister-Vogels. Und dem Q&A. Naja.
Viel besser war damals das Q&A mit Alice Rohrwacher, die leider nur per Zoom zugeschaltet war. Dennoch ein herzlicher Sonnenschein sondergleichen. Ihr neuer Film »La Chimera« ist aus ihrer Filmografie bislang der, den ich am wenigsten mochte, jedoch ist diese volkstümliche Ballade über einen Meister-Grabräuber glaube ich ein guter Zugang zu ihrem rusikalen Kosmos. Magischer Realismus im Gegenwartsitalien, viel Filmkorn, noch mehr Menschen und unerwartet viel Gesang. Wer aus dem Adventskalender »Le pupille« mochte oder schon immer »Glücklich wie Lazzaro« sehen wollte, findet hier einen optimalen Schwesterfilm.
Nicht gesehen und auch fast nicht gelesen habe ich über »Irdische Verse«, jedoch wollte ich das neue Werk von Ali Alisgari in die Preview aufnehmen. Zumal das iranische Kino beim JFK ja Tradition hat. Wobei es diesmal kein Killer-Thriller wie der bejubelte »Holy Spider« letztes Jahr und auch kein reines Moraldrama ist, sondern ein finster-satirischer Episodenfilm über das kruder Bürokratiesystem des Irans. Dessen Zuständigkeitsbereich erstreckt sich nicht nur über die klassischen Formalia, sondern auch bis hin zu Kindernamen, Modezweifeln oder entführten Hunden. Würde ich mir auch gerne ansehen, auch wenn der Iran in Deutschland immer stabiler als in Österreich vertreten ist… Geht für mich rein!
Horror dürfte dafür überall laufen. Nur braucht er manchmal, bis er zu uns kommt. »Cobweb« wurde schon vor Monaten von Red Letter Media empfohlen, aber erst jetzt kommt er zu uns. Als »Knock Knock Knock«. Wie griffig. Und deutsch. Naja, immerhin deutet es auf das hin, worum es geht. Denn hier ist etwas in den Wänden. Oder jemand. Was wäre beunruhigender? Kleiner, fieser, unerwartet halluzinatorischer Schockerstreifen, wo weniger im Vorfeld zu wissen wohl vorteilhaft ist. Dadurch zeichnen sich die besten Horrorfilme aber ja auch aus.
Nachdem wir nun in verschiedenste Genrenieschen getaucht sind, nehmen wir auch noch eine Doku mit. Denn »High & Low« ist noch nicht Spike Lees Kurosawa-Remake – bei dem war jetzt gerade erst Drehstart –, sondern ein Porträt des Modeschöpfer John Galliano. Eigentlich nicht so ganz mein Resort (keine Ahnung, ob es hier Fans gibt), aber nach der damals fulminanten Dokumentation zu Alexander McQueen scheint mir die Branche voll von furiosen wie tragischen Schicksalen zu sein. Und Galliano hatte wohl eines der wildesten in der Designergeschichte. Ich bin deswegen auf den Film gekommen, weil MUBI als Kinoverleih viel Werbung macht, was für mich erstmal ein nicht zu vernachlässigendes Zeichen ist. Zu Wort kommen unter anderem Naomi Campbell, Kate Moss, Penélope Cuz und Charlize Theron.
Als großes Finale der Film, auf den zumindest Lua sich glaube ich mit am meisten freut: A24s »Civil War« zeigt, was hoffentlich nicht nach der diesjährigen Wahl passiert [panisch-hysterisches Lachen]. Kirsten Dunst stolpert mit einer Kamera durch ein untergehendes Amerika und Regisseur Alex Garland (»Ex Machina«, »Annihilation«, »Men«) ballert fette Explosionen um sie herum. Sehr ambitioniertes Projekt. Vielleicht überambitioniert? Der JFK wird es initiativ herausfinden, denn genau wie die Journalisten im Film, lassen wir uns nichts vorschreiben. Liegen nur hoffentlich danach nicht am Boden des Kapitols.
Ihr seht: Wir haben im Grunde ALLES im Angebot, von Genregeblödel bis intellektgeladenster Kunst. Ich hoffe, für alle ist etwas dabei, sodass ich ein paar Einträge auf Letterboxd sehe.
Bis dahin
Euer JFK-President
P.S.: Lennart hat die Website repariert, yeah.