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JFK Adventskalender 2023

Türchen 14

Schon einmal hatten wir in diesem Kalender meinen Darling Alice Rohrwacher, diesmal aber mit ihrem Meisterwerk: »Glückliche wie Lazzaro«. Nachdem ich den Film als junger Bub 2018 im Scala sah, wankte ich durch und durch beseelt über das feucht angekühlte Oktoberpflaster Lüneburgs. In jedem Einzelbild singt hier der magische Realismus, rau doch träumend. So gestaltet sich nämlich auch das Leben Lazzaros: Er arbeitet in einer ruralen Gemeinde als Helfer für alle gröberen Arbeiten auf dem Feld. Und es fällt einiges an, denn die abgekapselte Gemeinde wird von der vorstehenden Marchesa unter geradezu feudalen Verhältnissen gepeitscht. Während die anderen Dörfler ihren resignierten oder pfiffig-spielerischen Alltag suchen, macht das dem gutmütigen Lazzaro nichts aus. Er fängt sogar eine unverhoffte Freundschaft mit dem Sohn der Marchesa an. Doch entfaltet sich da in den Hügel und unter den heulenden Wölfen etwas, das größer ist, als Arbeiter und Pseudo-Aristokraten es sich vorstellen können.

Die tatsächlichen Wunder des Filmes ziehen einen wirklich die Schuhe aus, doch schon vorher staunt man wie ein kleines Kind über die Schönheit, die Rohrwacher überall inmitten der Landarbeit entdeckt. Das satte Grün des des Blätterlabyrinths im Feld, das Brechen der Sonne in tanzenden Heuflocken, Kindergesichter im Schein der Nacht. »Glückliche wie Lazzaro« ist selber ein Wunder von einem Film, eine Wiedergeburt des großen italienischen Kinos. In meiner Topliste des 21. Jahrhunderts hat es Rohrwachers Film auf Platz 35 geschafft, in der Top 100 der 2010er-Jahre auf Platz 14. Und hoffentlich bald auf Platz 1 eurer MUBI-Watchlist.

Teile der italienischen Landbevölkerung sind so arm und von der globalen Erwärmung gebeutelt, dass sie sich nicht einmal Schnee leisten können, geschweige denn ihn gratis aus dem Schoß von Mutter Natur bekommen. Daher wurde die Tradition des Heu-Schnees entwickelt. Die Idee der Erkältung ist gerade im Süden des Landes abhanden gekommen. Heuschnupfen ist der normale Schnupfen geworden. Niemand zieht sich mehr warm an. 2017 würde der letzte Schal öffentlich verbrannt.
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Türchen 13

Das Furchteinflößende am Familienfest der Weihnacht ist, dass es kein Entrinnen gibt. Man kann schlecht einfach von der überfrachteten Tafel mit ihren gegorenen Gesprächen aufstehen und gehen. Kein Film verbildlicht dieses Gefühl so wie Buñuels »Der Würgeengel«. Bei diesem surrealistischen Satiremeisterwerk ist die Prämisse einfach wie absurd wie brillant: Eine bourgeoise Abendgesellschaft trifft sich zum prachtvollen Tafeln. Der Abend wird lang und länger. Aber keine geht. Die Ersten machen sich bequem, manche dösen sogar ein. Doch niemand macht sich auf nach Hause. Am nächsten Morgen stellen sie fest, dass sie alle noch immer im selben Salon geblieben sind. Man stellt fest, dass es ja nun wirklich Zeit wäre, aufzubrechen. Aber niemand tut es. Niemand kann es. Der Ausgang steht offen vor einem, doch kann sich niemand entschließen, zu gehen. So ist die Gesellschaft im Salon gestrandet. Um nachdem die Häppchen leer sind, werden die Ressourcen bald knapp.

Ein fest in meiner Top 100 verschweißtes Meisterstück der mexikanischen Phase des großen spanischen Regisseurs. Vor einigen Monaten durfte ich ihn in Frankfurt das erste Mal auf Leinwand sehen und schrieb ein paar nähere Gedanken nieder. Ihr könnt das unentfliehbare Bankett auf Amazon Prime nun auch nachholen.

Pediküre, Makeover und lukullisches Schnabulieren: Das und noch viel mehr gibt es exklusiv zum Bestpreis bei BaumannSPA.
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Türchen 12

Eine kleine Familie im Schnne. Das gibt es in »Nanuk, der Eskimo«. Nur ist dies kein glücklicher Flockenfall, keine Ausnahme. Nanuks Familie lebt im ewigen Schnee des Nordens. Robert Flaherty, einer der Urväter des Dokumentarfilms, fuhr für seine Filme nicht nur in die Südsee, sondern eben auch in die eisige Kälte und schuf mit diesem keine 80 Minuten fassenden Film eine der prägendsten Arbeiten der Geschichte. Sowohl für das Kino als auch für unser Bild der Inuit. Der Film begleitet den Alltag der Familie, von der Walrossjagd über die Pflege der Schlittenhunde bis hin zum Bau eines Iglus. Es ist kein Film mit der exotistischen Brille eines Touristen, sondern ein ganz nahes, intimes Porträt einer Familie. Wenn auch eines, dass nicht ganz dem heutigen Begriff von Dokumentation entspricht, sondern eher einer verdichteten Nacherzählung im dokumentaristsichen Stil. Diesen Faktor der Inszenierung ist bis heute in der Rezeption des Filmes durchaus kontrovers. Doch möchte ich auf die zutiefst menschliche Erfahrung pochen, die Flaherty bebildert. Wenn ihr trotz allem also auch ein wenig Zeit im Iglu verbringen und ein Leben im Schnee kennenlernen wollt, das härter ist als München vorletztes Wochenende, dann könnt ihr das hier tun.

90 Prozent dieses Bildes sind Fell aus zertifizierten Echthaar.
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JFK Adventskalender 2023

Türchen 11

Draußen ist es kalt, der Wagen ist vom Schnee eingebuttert, man hat heute schon wieder drei Packungen Spekulatius geballert und der Kamin mummelt den Raum auf Backofentemperaturen ein. Und da soll man jetzt raus? Och nee! Da wird doch eh nicht vernünftig gestreut, die Stadt hat kein Geld wie Winterdienst und am Ende brech ich mir noch was. Aua!

James Caan hat es in »Misery« gut, der darf im muckeligen Bettchen liegen. Und dann wird er auch noch von seiner größten Verehrerin bemuttert! Denn seine Figur Paul Sheldon ist Autor und das mit Erfolg. Und selbst als er mit seinem Auto auf einer zugeschneiten Straße in Colorado verunfallt, hat er Glück, denn Annie Wilkes gefunden und aufgenommen. Sie ist Nummer-1-Fan von eienr von Sheldons Romanfiguren. Für sie geht also quasi unverhofft ein Traum in Erfüllung. Denn vielleicht erfährt sie ja sogar was aus dem neuen Buch! Aber was, wenn das, was der ans Bett gefesselte Autor da bisher geschrieben hat, der sehr investierten Leserin nicht besonders gefällt?

Mit »Misery« hat Rob Reiner (»The Princess Bride«, »Stand by Me«, »Harry & Sally«, »This Is Spinal Tap«) einen weiteren Fanfavoriten geschaffen und vor allem eine der besten Stephen-King-Verfilmungen, die der Autor sogar selber mag. Selten war ein klaustrophobischer Psychothriller oder Borderline-Horrorstreifen so vergnüglich, was nicht zuletzt an der monumentalen Kathy Bates liegt. Nicht umsonst hat sie für die Rolle der beherzten Psychotyikerin den Oscar bekommen. Mit ins Bett legen kann man auf Amazon Prime.

Jasmin (links) bitte Joris (rechts) lieb und nett darum, einen JFK-Adventskalender zu schreiben.
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Türchen 10

Für das zehnte Türchen reisen wir in das Reich des ewigen Schnees: Skandinavien, genauer Schweden. Jan Troell ist einer der bedeutendsten Söhne seiner Filmnation, wenn auch im ewigen Schatten Ingmar Bergmans. Zu Unrecht! Denn mindestens mit »Hier hast du dein Leben« hat Troell ein Monument der Filmgeschichte geschaffen, vor allem aber auch einen großen Spiegel seiner Heimat. Denn dieser filmische Bildungsroman des jungen Olof ist eine Reise in den Kinderschuhe des 20. Jahrhundert, zwischen ländlicher Armut, Süßigkeitenverkaufen im Kino und erwachendem Sozialismus. Das brillante Schwarweiß schafft ein dauernd kühles Schweden, in dem aber überall das Leben glüht. In all seiner Unwägbarkeit, seiner Wildheit, seinen Charakteren, seiner Poesie. Gerade Letzteres macht die Schönheit des Filmes aus, diese naturalistische Lyrik der Bilder, die einem das schwedische Leben so gibt, wie es ist, unromantisiert, aber immer aufregend. Im grandiosen Ensemble sind unter anderem Max von Sydow und Gunnar Björnstrand zu sehen. Es ist sicher kein Weihnachtsfilm im klassischen Sinne, doch dieses volle Durchfühlen des Lebens, die frostige Natur, das zusammengerückte Leben der Familien auf dem Land, die Weite der Winterfelder und Winterwälde, das macht zumindest für einen vollmundigen Zauber aus, wie ich ihn für die Feiertage liebe. Wer ihn auch lieben will, kann dies zusammen mit vielen anderen schwedischen Perlen auf Netflix tun.

Schweden, Hochsommer.
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Türchen 9

Warum ein Film namens »Weizenherbst« im Winter? Vor allem einer, der als englischen Verleihtitel »Early Summer« hat? Dieser wunderbare kleine Film soll repräsentativ für das Werk Yasujirō Ozus sein, welches gerade eine feine Retrospektive in der ARTE-Mediathek hat. Mit welchem man einsteigt, das ist keine ganz einfache Frage, vermischen sie sich doch selbst bei Kennern leicht im Gedächtnis. »Früher Frühling«, »Später Frühling«, »Ein Herbstnachmittag«, »Spätherbst« oder eben »Weizenherbst«: Ozu oder zumindest seine Übersetzer lieben die Jahreszeiten. Und auch der Grundplot ist meist derselbe: Ein Vater macht sich Sorgen um die Verheiratung seiner Tochter. Immer sind es Familiendramen, immer dieselben Tatamimatten, die strengen Kadrierungen; lyrische Variationen wie in einer Impressionistenserie. Doch das Meisterliche Ozus ist gerade das schlichte Detail, das jede dieser Familienanatomien für sich einzigartig ist und stets eine neue Facette zu den Figuren des Ozu-Ensembles hinzufügt. Es entsteht ein zusammenhängender, kontinuierlich expandierender Kosmos, zusammengehalten von der Metaphysik der Teekanne, wie es gerne genannt wird. Ozu ist nicht nur Favorit der Cinéphilen, sondern gewohnheitsmäßig auch der Japan-Nerds, gilt er doch zumeist als der japanischste aller Regisseure. Und das, obwohl er selbst sich nur als Reproduzent des alten Hollywoods betrachtet.

»Weizenherbst« gehört nicht zu den größten Klassikern, das wären wohl »Die Reise nach Tokio«, »Ein Herbstnachmittag« oder »Später Frühling« (auch alle auf ARTE). Doch wählte ich zum Weihnachtsfest einen der in meinen Augen schönsten Porträts einer großen, mehrere Generationen umfassenden Familie. Meine Wertschätzung drückte ich einst in einer frühen Besprechung aus, als ich noch zu schreiben lernte. Der Film berührte mich aber so, dass ich trotz allem fehlenden Knowhow schreiben musste.

Apropos Adventskalendertürchen: Wie viele Vierecke sind in diesem Bild? Schätzungen (keine Zählungen!) in die Kommentare.
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Türchen 8

Ei, ei, ei. Bei all dem Festtagstrubel, den ganzen Verwandten und Geschenken ist im Advent schnell mal der Teufel los. Selbst in der verschlafendsten Provinz. Aus dem verkafftesten Bayern kommt Michaela in »Requiem« zum Studium nach Tübingen. Sie meint, abseits des elterlichen Nests aufzublühen, doch sobald sie ihre Medikamente absetzt, beginnt ihr Körper und Verstand zu zerreißen. Für die streng katholisch erzogene Studentin ist es klar: sie ist vom Teufel besessen. Die heimischen Geistlichen stimmen ihr da mehr als bereitwillig zu.

Basierend auf einem wahren Fall erzählt Hans-Christian Schmid hier einen Exorzismusfilm in frostklammen Braun, der statt Budenzauberhorror eines der instensivsten Psychodramen der 2000er entwickelt. Das ist vor allem auch Sandra Hüller (»Toni Erdmann«, »Anatomie eines Falls«, »In den Gängen«) zu verdanken, die hier einen frühen Karrierehöhepunkt erreicht. Wer nochmal vor dem Krippenspielgottesdienst mit anschließendem Schmauß zwischen dem abgedrifteten Onkel und der einen für das weite Wegziehen rügenden Großmutter den Würgegriff von Kirche und Familie mit voller Kraft spüren will, der ist mit diesem deutschen Meisterwerk optimal beraten. Das dunkle Quentchen Spiritualität gibt es auf MUBI zu sehen.

Eine Studentin merkt plötzlich, dass er Weihnachtsgottesdienst für ihr Theologie-Exportmodul gar nicht prüfungsimmanent ist. Wird sie trotzdem ECTS bekommen? Wie viele SWS sind das? Sorgen zeichnen sich in ihren abschweifenden Augen. Sie suchen das Modulhandbuch.
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JFK Adventskalender 2023

Türchen 7

Weihnachtszeit ist Märchenzeit. »Wolfwalkers« ist ein doppeltes Märchen. Eine fantastische Reise zu irischen Wäldern und Burgen, wo die wilden Wölfe heulen. Aber auch ein prägender Meme-Herd der Chefetage. Von Apple-TV [*kreuzt die Arme*] PLUS zum Lord Protector. Leider holte niemand anderes das Traumevent nach, was vielleicht an der Plattform der Verfügbarkeit steht [*kreuzt erneut die Arme*]. Doch lohnt die Überwindung, denn der mit der Goldenen Schnecke ausgezeichnete Animationsfilm gehört zu einem der berauschendsten Augenweiden der letzten Jahre. Actionreich, fantasievoll, finsterbunt. Für alle, die die Märchenbuden in der Lüneburger Innenstadt schon durchgeguckt haben.

Schwarzkäppchen ist ein oft verschwiegenes Märchen der Grimmschen Tradition. Das Märchen wurde im Wormser Konvent verboten, da Schwarzkäppchen die unchristlich-illegale Waffe der Armbrust benutzt. Nicht besonders toggo von ihr.
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JFK Adventskalender 2023

Türchen 6

Zum Nikolaustag gibt es heute mal einen Film mit echtem bärtigen Onkel in Rot. Wobei: Ihr müsst euch die Farbe vorstellen. Denn »Miracle on 34th Street – Das Wunder von Manhattan« ist von 1947 und noch im GUTEN ALTEN Hollywood-Schwarz-Weiß. Insgesamt glänzt und glitzert dieser kleine Klassiker vor lauter Patina des goldenen Gestern. Dabei ist der Punkt, dass die Welt gar nicht so märchenhaft ist: Kris Kringle (verwandt oder verschwägert mit Karel Kopfrkingl??? (LOL, tschechoslowakische Avanatgarde-Filmnerd-Referenz!!!!!)) muss bei einer Thanksgivingparade für den besoffenen Nikolausdarsteller einspringen. Seine Qualifikationen: dicker Bauch und Rauschebart. Er macht es aber so gut, dass er auch für die Weihnachtszeit engagiert wird. Warum auch nicht, immerhin gibt er an, der echte Weihnachtsmann zu sein! Herzliches-Hollywood-Feelgoodkino, wo einem das Herz warm wird wie der traute Großelternkamin mit einem Hauch von Zimt und Zucker in der Luft. Den großen US-Altklassiker gibt es natürlich wo? Auf dem familienfreundlichen Disney+.

Früher war mehr Lametta. Nur war es halt schwarz-weiß.
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JFK Adventskalender 2023

Türchen 5

Man kennt die Situation: Der Truthahn ist gar, die Kerzen am Baum brennen und das Räuchermännchen (*) hat schon die ganze Diele aromatisiert. Aber wo sind die Rotzgören? Das fragt sich auch Hugh Jackman in »Prisoners«. Denn seine Tochter verschwindet eines Tages spurlos. Das setzt nicht nur der Familie sehr zu, die ganze Nachbarschaft steht wie unter Schock. Doch statt zu erstarren macht sich Jackmans bärtiger Keller Dover selbst auf die Suche nach dem Täter, da ihn Jake Gyllenhaals Ermittlungen zu lange dauern. Und bald werden er und sein Hammer fündig. In klammen Bildern inszeniert Denis Villeneuve (»Dune«, »Blade Runner 2049«, »Arrival«) einen Thriller, der jetzt schon als Klassiker aus den 2010ern hervorragt. In wenigen seiner Filme ist das Unterkühlte des Kanadiers Villeneuve so bis auf die Knochen spürbar. Beinhart in der Verzweiflung seiner Charaktere, fiebrig in seiner Suche nach der Wahrheit, blutgefrierend in seinen Wendungen. Die finstere Fabel stimmt nicht nur perfekt auf die Unterkühlungen des früh dunkelnden Monats ein, sie macht einen doch doppelt froh im Rahmen einer halbwegs vollständigen Familie zu sitzen und vielleicht irgendwo ein Balg rumgaloppieren zu sehen. In Nebenrollen unter anderen noch mit Paul Dano und Viola Davis. Kamera: One and only Roger Deakins. Star des Filmes nichtsdestotrotz: Jake Gyllenhaals Blinzeln. Im Loop verfolgbar auf Netflix.

Wer braucht eine weiße Weihnacht, mit Tollem im Schnee, wenn man sich zwischen trüben Matschpfützen und steinhartem Schwarz der zugefrorenen Erde das Knie aufschlagen kann? Willkommen im Dezember-Frösteln des 21. Jahrhunderts.