Wie jedes Jahr ist das Filmfestival von Cannes, der Wettbewerb um die Goldene Palme. Dieses Jahr symbolisiert das Festival besonders das Wiederauferstehen des Kinos nach der Pandemie. Das drückt sich vor allem darin aus, dass ein Highlight sich an das andere reiht. Da eine vollständige Besprechung aller Filme, auch nur der Interessanten den Rahmen sprengen würde, wurde redaktionell beschlossen, sich auf einen Kern von für den JFK relevanten Titeln zu beschränken. Eine Komplettliste mit allen Filmen finden Sie alternativ hier. Ansonsten empfiehlt Baumannconsulting zu näheren Informationen und Besprechungen die Cannes Kolumnen in The Guardian von Peter Bradshaw, in IndieWire von Eric Kohn und David Ehrlich oder in der Süddeutschen von Tobias Kniebe. Wir freuen uns sehr, wenn Sie uns in den Kommentaren mitteilen, auf welche Titel sie sich am meisten freuen!
Fangen wir mit den Gewinnern an. Für eine besonders große Überraschung konnte der diesjährige Gewinner sorgen, den wir hier, genau wie Jurypräsident Spike Lee es versehentlich tat, gleich als Erstes verkünden wollen: “Titane” ist Preisträger der Goldenen Palme 2021, dem vielleicht prestigeträchtigsten Preis der internationalen Filmszene abseits vom Oscar. Das Prädikat ‘überraschend’ wird dann klar, wenn man sich den Film etwas genau besieht. Es handelt sich um ein Body-Horrorstreifen, in den eine Frau von einem Auto geschwängert wird, in dem Identitäten und Geschlechter getauscht werden, tropfend von Motoröl, Blut und flammenzüngelndem Spiritus. Ein bisschen experimentelle Genreavnatgarde, ein bisschen LGBTQ+, ein bisschen Cronenberg. Und viele feurige Franzosen, als Special Interest der JFK-Kenner. Es ist zwar erst ihr zweiter Film nach der Kannibalen-Coming-of-Age-Fabel “Raw”, doch Regisseurin Julia Ducournau ist damit erst die zweite Frau, die den Hauptpreis von Cannes gewinnt. Mit an Bord ist noch Schauspielkoryphäe Vincent Lindon (“Streik”). Koch Films hat sich “Titane” schon für den deutschen Vertrieb gesichert.
Silber Medaillen, also den Großen Preis der Jury, gab es gleich doppelt. Zum einen für das iranische Drama “Ein Held”, zum anderen für die finnische Zugromanze “Compartment No. 6”. Mit Ersterem kehrt das internationale Aushängeschild des Neuen Iranischen Kinos Asghar Farhadi (“Nader & Simin: Eine Trennung”, “The Salesman”, “Offenes Geheimnis”) in seine Heimat zurück. Erneut handelt es sich um ein dichtes Moraldrama rund um einen Mann, der verzweifelt versucht, dem Schuldgefängnis zu entkommen. Besonders gelobt wurde die Genauigkeit in der Darstellung sozialen Situation, die Farhadi erneut subversiv in seine intensive Geschichte einwebe. In IndieWire sprach man von seinem besten Film seit seinem ersten Oscar-Gewinner “Nader & Simin”.
Der Finne Juho Kousmanen erzählt in “Compartment No. 6” von einer einfach Begegnung im Zug. Eine finnische Studentin und ein russischer Arbeiter auf dem Weg nach Murmansk. Etwas melancholische Liebessehnsucht zwischen Einsamkeit und kargen Weiten. Mituntert verglichen mit Richard Linklaters “Before”-Trilogie. Kousmanen konnte bereits vorher mit seinem intimen Boxerdrama “Der schönste Tag im Leben des Olli Mäki” begeistern.
Begeistern, aber auch irritieren konnte vor allen anderen “Annette”. Regisseur Leos Carax (“Die Liebenden von Pont-Neuf”, “Holy Motors”) gilt seit Jahrzehnten als innovative Sperrspitze der französischen Avantgarde und konnte diesen Ruf erneut bestätigen. Zusammen mit der britischen Kult-Art-Rock-Band Sparks entwickelte er ein großes Musical, in dem fast ausschließlich gesungen wird. Adam Driver (“Marriage Story”, “Paterson”, “BlacKkKlansman”) spielt darin einen Comedian, dessen brüchige Beziehung zu einer von Marion Cotillard (“Inception”, “Macbeth”) dargestellten Sängern durch die Geburt eines wundersamen Kindes möglicherweise gerettet werden könnte. Oder endgültig in den Abgrund stürtzt. In Cannes waren Publikum und Kritik von der fast zweieinhalb Stunden Starken Leinwandoper stark gespalten, die Jury gab Carax dennoch den Preis für die Beste Regie. Einer der heißerwartetsten Filme dieses Wettberwerbs.
Darstellerpreise gab es für Renate Reinsve aus “The Worst Person in the World” und Caleb Landry Jones aus “Nitram”. Nachdem Joachim Trier sich im Ausland ausprobierte und zuletzt mit “Thelma” einen Abstecher ins Fantastische machte, kehrt der Norweger nun wieder zu seinen Wurzeln zurück und rundet seine Oslo-Trilogie ab. “The Worst Person in the World” ist eine kleine Tragikomödie über das Leben in der skandinavischen Großstadt. Publikums- wie Kritikerliebling. “Nitram” hingegen wurde fast übersehen, wobei das australische Thrillerdrama von Justin Kurzel (“Macbeth”, “True History of the Kelly Gang”) rund um den Massenmörder Martin Bryant zum Festivalende durchaus gut besprochen wurde. Besonders die mitreißenden Schauspielleistungen des beunruhigenden Psychogramms hob man überall hervor. Triers Film kommt vielleicht noch dieses Jahr, ebenfalls bei Koch Films, bei Kurzel ist noch nichts bekannt.
Ebenso ist auch nichts bekannt bei Hamaguchis “Drive My Car”. Obwohl die Film des Japaners kontinuierlich auf jeden Festival gepriesen werden, fanden sie bisher nie den Weg nach Deutschland. Daher war ich schon guter Dinge, als es hieß, die Murakami-Verfilmung (Autor der Vorlage zu “Burning”) sehr absoluter Favorit für die Goldene Palme. Doch dann hat es doch nur zum Drehbuchpreis gereicht. Trotzdem bleibt das drei Stunden starke Mystery-Liebesdrama einer der am heißesten erwarteten Titel des Jahres.
Ein weiterer findet sich unter den Bronzemedaillengewinnern, dem Preis der Jury. Hier gab es auch zwei Gewinner. Das angekündigte Highlight ist “Memoria”. Der Thailänder Apichatpong Weerasethakul ist zurück und hat diesmal Tilda Swinton (“The Dead Don’t Die”, “Only Lovers Left Alive”, “David Copperfield”). Den Großmeister hat es das erste raus aus seiner Heimat nach Kolumbien verschlagen. Dort versucht Botanikerin Jessica dem Ursprung mysteriöser Geräusche auf die Spur zu kommen, während sich ihre Schlafprobleme drastisch verschlimmern. Hätte Weerastehakul nicht schon so viele Preise, einschließlich der Goldenen Palme gewonnen, so hätte er sie auch diesmal wohl mühelos mit nach Hause genommen. MUBI schnappte sich die Deutschlandrechte noch vor Wettbewerbsende.
Der andere Preis der Jury ging an den stark politischen “Aheds Knie”. Nachdem Nadav Lapid zuletzt mit “Synonymes” den Goldenen Bären gewann, konnte der Israeli erneut mit seiner kreativen Neuerfindung seiner provokanten Filmsprache einige vom Hocker hauen. Teils persönliche Selbstreflexion, teils gnadenlos harte Satire über die ernste Lage seiner Heimat. Noch gibt es keine Informationen über einen Deutschlandstart, aber da massig deutsche Gelder mit drin stecken, dürfte das Anlaufdatum schon bald aus dem Konjuktiv gehoben werden.
Nichts gewonnen hat überraschenderweise Wes Andersons (“Grand Budapest Hotel”, “Isle of Dogs”, “Moonrise Kingdom”) neuer Film “The French Dispatch”. Dabei ist wohl kaum ein Film schon seit Produktionsbeginn so geyhped wie dieser. In seiner üblich skurril-verspielten Weise widmet sich Anderson diesmal dem französischen Journalismus in einem großen Episodenmosaik. Nur scheint er mit dem Wimmelbild seinen Stil noch weiter zu schrauben. Noch bunter, noch voller, noch facettenreicher. Beim Cast weiß man gar nicht, wo man anfangen soll. Timothée Chalamet, Bill Murray, Frances McDormand, Tilda Swinton, Jeffrey Wright, Adrien Brody, Benicio del Toro, Léa Seydoux, Mathieu Almaric, Elisabeth Moss, Saoirse Ronan. Und damit haben wir unseren Finger nur in die Glasur vom Kuchen gestippt. Ab dem 21. Oktober dürfen wir endlich ganze Stücke aus diesem Traum von einem Film herausschneiden.
Und dann noch einer aus den Nebenreihen. Dort wurde nämlich “After Yang” von allen Kritikern bejubelt. Regisseur Kogonada etablierte sich bereits mit “Columbus” als einer der aufregendsten Stimmen des amerikanischen Indie-Kinos. Jetzt ist er mit einem Sci-Fi-Familiendrama über ein zu rettenden Roboter. In der Hauptrolle brilliert (als Mensch) Colin Farrell (“The Killing of a Sacred Deer”, “Brügge sehen … und sterben?, “The Gentlemen”).
Soweit erstmal. Wie gesagt, sind da noch einige interessante Titel. Ein paar Highlights sollen noch knapp erwähnt werden:
- “Bergman Island” von Mia Hansen-Løve mit Mia Wasikowska (“Alice im Wunderland”, “Only Lovers Left Alive”), Vicky Krieps (“Der seidene Faden”) und Tim Roth (“Pulp Fiction”)
- “Lamb” von Valdimar Jóhannsson
- “Große Freiheit” von Sebastian Meise mit Franz Rogowski (“Undine”, “Ein verborgenes Leben”, “Victoria”)
- “Red Rocket” von Sean Baker (“The Florida Project”)
- “Lingui” von Mahamat-Saleh Haroun
- “Wo ist Anne Frank?” von Ari Folman (nach seiner gleichnamigen Graphic Novel)
- “Belle” von Mamoru Hosoda (“Ame & Yuki: Wolfskinder”)
- “Stillwater” von Tom McCarthy (“Spotlight”) mit Matt Damon (“Good Will Hunting”, “Bourne”-Trilogie, “Ocean’s”-Trilogie) [Start am 9. September]
- “Les Olympiades” von Jacques Audiard (“The Sisters Brothers”) mit Noémie Merlant (“Porträt einer jungen Frau in Flammen”)
- “Everything Went Fine” von François Ozon (“Gelobt sei Gott”, “Sommer 85”)
- “Die Geschichte meiner Frau” von Ildikó Enyedi mit Léa Seydoux (“Blau ist eine warme Farbe”, “Spectre”, “The Lobster”) und Louis Garrel (“Little Women”)
- “France” von Bruno Dumont mit Léa Seydoux
Alle auszuführen ginge hier zu weit. Schlagen Sie gerne selbst bei den eingangs erwähnten Quellen nach, schauen sie Trailer, scrollen sie durch Letterboxd und IMDb. Baumannconsulting hofft, wir konnten Ihnen einen kleinen Einblick in dieses höhepunktreiche Festival gewähren und Sie haben ein paar Titel, auf die sie sich freuen können. Wir lesen uns dann in einigen Wochen wieder, wenn in Venedig der Teppich ausgerollt wird. Auf der Gästeliste dann ganz oben: “Dune”.